“Daje oder alte Lasten – neue Zeiten”
Wer seinen Frieden mit der Vergangenheit schließen will, muss sich ihr stellen. Ostfriesland 1923 – fünf Jahre nach seinem Ende sind die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs immer noch spürbar: Geldentwertung und Arbeitslosigkeit machen den Menschen auch an der Küste merklich zu schaffen. In der Familie von Daje Fischer bleibt die Zeit nicht stehen: Ihre neun Kinder sind erwachsen; auch die jüngeren beginnen, eigene Wege zu gehen. So halten die „wilden Zwanzigerjahre“ mit neuen Ideen und neuen Moden ihren Einzug selbst in der Stadt Norden, wo Dajes Tochter Marleen ihre erste Modenschau plant. Zudem brechen alte, vernarbt geglaubte Wunden wieder auf: Enkel Hauke, der am Deich bei seinen Zieheltern Hagen und Marie aufwuchs, will wissen, wer sein wirklicher Vater ist. Ein heikles Thema für Daje und ihre Lieben… Das alte Ostfriesland zwischen Norden und Esens sowie Heidelberg und Frankfurt am Main sind die Schauplätze meines vierten Daje-Romans.
,,Anna – ein ganz normales Leben, oder?”
Prolog und Epilog spielen im Jahre 1899, der Mittelteil 100 Jahre später.
Liebe Leser meiner Bücher,
vor 20 Jahren erschien das 1. Anna Buch. Mit dem Titel: “Anna oder als Urgroßmutter das elfte Kind bekam”. Inzwischen habe ich das Buch überarbeitet und der Söker Verlag hat es mit einem neuen Cover wieder herausgebracht. In dem 1. und 2. Anna Teil geht es um Familien in kritischen Situationen. Frauen, die unterdrückt werden, oder Entscheidungen treffen müssen, die ihr ganzes Leben begleiten werden. Heute haben wir Frauen oftmals die Möglichkeit über unser Leben selbst zu entscheiden. Wenn auch nicht immer. Das war vor hundert Jahren anders. Da fügte sich die Frau, weil sie sonst kaum Möglichkeiten hatte, ihr Leben zu ändern. Heute verdienen viele ihr eigenes Geld und können Kinder bekommen, oder auch nicht. Im zweiten Anna Buch wird erzählt wie Anna und Wiebke ihr Leben mit den getroffenen Entscheidungen weiterführen. Halten ihre Beziehungen das aus? Oder müssen sich die Frauen trennen, um wieder glücklich zu werden?
Die Daje Reihe führt das Leben mit Annas Großmutter vor hundert Jahren weiter. Lassen Sie sich auf meine Bücher ein. Es ist keine heile Welt, aber es werden Lösungen aufgezeigt. In Romanform und mit Humor. Eben so beschrieben wie das Leben ist.
Westermarsch Anno 1999
Während Anna am Tisch saß, setzte ihre Schwiegermutter Wasser auf. Stellte Tassen auf den Tisch und einen selbstgebackenen Käsekuchen. ,,Der sieht aber lecker aus”, lobte Anna und über Elsines Gesicht glitt ein erfreutes Lächeln. Nachdem die erste Tasse eingeschenkt war erzählte Elsine von den Nachbarn. Mit Empörung in der Stimme berichtete sie: ,,Die jungen Leute von gegenüber lassen sich scheiden. Nun müssen sie ihr Haus verkaufen.” Anna mochte keinen Tratsch. Ihr Motto: ,,Jeder kehre vor seiner Tür.” Als sie nicht auf Elsines Worte einging fuhr sie fort: ,,Das kommt davon, wenn beide arbeiten gehen. Die Frau hätte man lieber zu Hause bleiben sollen. Dann müssten sie sich jetzt nicht scheiden lassen.” Anna lachte. Dann sagte sie: ,,Aber Mutti! Die lassen sich gewiss nicht scheiden, weil sie arbeiten ging. Bestimmt gibt es dafür einen anderen Grund.” Doch Elsine war anderer Meinung: ,,Eine Frau gehört ins Haus. Sie muss ihrem Mann ein Nest bauen. Sonst haut er irgendwann ab.” Sie rührte wild in ihrer Tasse. Meinte dann: ,,Sie hat ihm nicht einmal die Brote für die Arbeit geschmiert.” Heftig stach sie mit der Gabel in ihr Stück Kuchen, bevor sie weiterschimpfte: ,,Was ist das denn für eine Ehefrau? Ich habe immer die Brotdose für Joost gefüllt, und wenn er von der Arbeit kam, stand das Essen bereits auf dem Tisch.” Stolz sah sie zu Anna hinüber. Dann legte sie ihre Hand auf deren Arm und sagte wohlwollend: ,,Gut, dass du nicht arbeitest.” Anna öffnete den Mund zu einer Antwort, doch dann ließ sie es sein. Elsine würde ihren Wunsch nicht verstehen.
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,,Anna – wie eine Feder?”
Der zweite Teil der “Anna”-Reihe
Nach einer schlaflosen Nacht ging sie schon vor dem Frühstück mit Wotan an den Deich. Setzte sich dort auf eine Bank. Wotan setzte sich neben sie, statt wie sonst, übermütig herumzutollen. Neben ihr lag eine Feder. Anscheinend hatte eine der Möwen sie verloren. Anna nahm sie in die Hand und betrachtete sie einen Moment. Hielt sie dann in den Wind und ließ sie von ihm davontreiben. Die Feder hob und senkte sich. Suchte nach einem Platz, an dem sie sich erneut niederlassen konnte. Doch der Wind ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Anna sah ihr nach und fühlte sich ebenfalls wie eine Feder. Herumgewirbelt. Aber wo war ihr Platz? Wo der Ort, den sie suchte? War ihre Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit utopisch? Nein, das wollte sie nicht glauben. Sie wusste, dass es etwas anderes gab. Geben musste! Und sie würde so lange danach suchen, bis sie es gefunden hatte. Denn wie Elsine, die sich in ihrer Ehe arrangiert hatte, wollte sie nicht leben. Sie hoffte, dass Lars ihr zuhören würde. Die Feder war inzwischen aus ihrem Blick verschwunden. Hatte sie ihren Platz gefunden? Anna stand auf und ging gemeinsam mit Wotan nach Hause, um endlich mit Lars zu sprechen.
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,,Kann Liebe warten?”
In Norden
Inga fuhr zu einem Discounter in die Gewerbestraße. Anhand ihres Einkaufszettels begann sie mit den Getränken und beendete den Einkauf mit einem Griff ins Süßigkeitenregal. Denn samstagsabends durfte Tido immer etwas länger aufbleiben und dann gab es etwas Besonderes zum Naschen. Vor ihr an der Kasse stand ein Mädchen. Sie schätzte sie im Alter wie ihren Sohn. Auf dem Laufband lagen ein Paket Nudeln, ein Glas Tomatensoße, eine Salatgurke und eine große Tafel Nussschokolade. Die Kassiererin zog die Sachen über den Scanner und verkündete: “Dreieurofünfundzwanzig.” Das Kind kramte ein Zweieurostück und eine Fünfzigzentmünze aus ihrer Hosentasche. Die Frau warf einen prüfenden Blick darauf. ,,Das reicht nicht!” Erschrocken sagte das Kind: ,,Mehr hab ich aber nicht. ” Mit dem Blick auf die immer länger werdende Schlange der Kunden, sagte die Kassiererin: ,,Nun, dann musst du etwas zurückgeben. ” Unentschlossen betrachtete die Kleine die Waren. Doch als einer rief: ,,Wie lange dauert das hier denn noch?” zeigte sie auf die Schokolade. Dabei machte sie so ein trauriges Gesicht, dass Inga spontan sagte: ,,Ich bezahle die Schokolade.” Das Kind schaute sie mit großen Augen an. Zögerte, wobei sie innerlich mit sich zu kämpfen schien. Denn sie hatte ein absolutes Verbot von Fremden etwas anzunehmen. Doch diesmal unterdrückte sie die mahnende Stimme. Sagte leise. ,,Aber auch wenn du mir die Schokolade schenkst, gehe ich trotzdem nicht mit dir.”
Inga lächelte und antwortete: ,,Das will ich auch nicht. Sondern dir die Schokolade einfach nur schenken.” Da ging ein Leuchten über das Kindergesicht. Mit einem leisen: ,,Danke!!” stopfte sie die Einkäufe in ihren Beutel, und lief hinaus. Inga verließ das Geschäft wenig später und hatte gleich darauf die Kleine vergessen. Doch bald darauf sollte sie sie wiedersehen.
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,,Daje oder die Träume hinterm Deich”
1902
,,Zuhause angekommen schloss sie erst einmal die Fensterläden die der Wind ihr immer wieder aus den Händen reißen wollte. Sah dann nach, ob das schwere Holzbrett zum Schutz des Wassers auf der Zisterne lag, und betrat das Haus durch den Stall. Dort standen ihre Kuh Rosa, die unruhig mit den Füßen scharrte, und ihr im Herbst geborenes Kälbchen. Sie strich ihnen beruhigend über den Kopf. Die Kuh muhte als Daje leise sagte: ,,Keine Angst, ist nur der Sturm.” Nachdem sie Wasser in der Tränke aufgefüllt hatte, legte sie ihnen Heu hin. Dann öffnete sie die Tür zum Wohnraum. Feuchte Wärme und der Duft von frisch Gebackenem schlugen ihr entgegen.
Ihre ältesten Töchter saßen mit einer Handarbeit beschäftigt hinter dem Tisch aus dunklem Eichenholz. Die vierzehnjährige Marleen sprang auf. Rief besorgt: ,,Mutter, wir haben uns schon Sorgen gemacht. Gib mir dein nasses Tuch und setz dich in den Sessel. Du bist ja ganz erfroren.” Daje war tatsächlich sehr müde. Für einen Moment schloss sie die Augen und spürte, wie sich das Kind in ihrem Bauch bewegte. Leise sagte sie zu ihm: ,,Keine Sorge ich habe dich nicht vergessen.” Bis zur Geburt an Weihnachten war es nicht mehr lange hin. Und Daje hoffe, dass dann auch ihr Mann zu Hause war, sodass sie alle zusammen das christliche Fest begehen konnten. Doch am nächsten Morgen steht ihre Freundin Emma vor der Tür und Dajes Leben fällt zusammen wie ein Kartenhaus.
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Der zweite Teil der Daje – Reihe heißt:
,,Daje oder Wege in die Welt”
Amerika/ Brooklyn 1911
,,Es war Samstagmorgen, als Line fragte: ,,Kommst du heute mit mir auf den Markt?” Sie hatte den Herrschaften das Frühstück hinaufgebracht und hoffte nun auf ein paar gemeinsame Stunden mit ihrem Mann. Doch statt ihre Frage zu beantworten, bat Henri: ,,Schenkst du mir noch eine Tasse Tee ein?” Sie sah ihm zu, wie er aß und trank und dabei in der New Yorker Staats-Zeitung blätterte, die von deutschen Einwanderern gegründet worden war. Erst als er fertig war antwortete er: ,,Nein! Das geht nicht. Der Doktor will auch heute ins Krankenhaus. Die Influenza breitet sich aus.” Besorgt fügte er hinzu: ,,Wir rechnen mit einigen Todesfällen. Außerdem ist es besser, wenn du im Haus bleibst. Schließlich ist es ja möglich, dass du schwanger bist. Und wenn du dich ansteckst …” Line zögerte. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, ihm zu erzählen, dass sie am Morgen ihre monatlichen Blutungen bekommen hatte. Doch seinen enttäuschten Blick, der sie daraufhin streifen würde, konnte sie nicht mehr ertragen. So hob sie nur die Schultern, antwortete ausweichend: ,,Es ist noch zu früh, wir müssen abwarten. ” Hoffnung flackerte in seinem Blick auf, während er ihren Bauch nach einer Veränderung absuchte. In solchen Momenten wünschte sich Line wieder kräftiger zu sein. Denn in den letzten Jahren waren ihre drallen Formen verschwunden und auch ihr einst rundes Gesicht war schmaler geworden. Um ihn von ihrer schmalen Taille abzulenken sagte sie rasch: ,,Du hast recht, deine Arbeit geht vor.” Erleichtert antwortete er: ,,Wenn die Influenza überstanden ist, habe ich wieder mehr Zeit für dich.”
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Der dritte Teil der Daje – Reihe heißt:
,,Daje oder Töchter und Söhne”
Norden im Januar 1919 in der Westerstraße
Marleen sah mit einem mitleidigen Blick auf den Besenstiel, in den Daje zu Weihnachten Löcher gebohrt und in diese kleine Äste gesteckt hatte. Wie viele andere, hatte sie das Geld für einen richtigen Weihnachtsbaum, nicht gehabt. Zumal so ein Baum, wie vieles andere auch, teurer geworden war. Der Stiel steckte in dem sich drehenden Ständer, den Siemke ihr vor dem Umzug zu ihrer Tochter auf den Hof geschenkt hatte. Geschmückt war der Stiel wie ein richtiger Tannenbaum. Mit roten Äpfeln, Keksen und Strohsternen und den selbstgemachten Stearinkerzen. Das provisorische Gestell und der damit verbundene Gedanke an das erste Fest im Frieden, hatte Daje noch hoffnungsvoll gestimmt, nachdem das Fest längst vorbeigewesen war. Doch als Marleen sagte: ,,Es ist Ende Januar. Willst du dein Gestell nicht endlich abschmücken?”, und humorvoll hinzufügte: ,,Sonst kannst du bald Ostereier daran hängen!” lächelte Daje ebenfalls. ,,Eigentlich eine gute Idee. Vielleicht sollte ich ihn in der Ecke stehenlassen und wirklich je nach Anlass schmücken.” Sie warf einen Blick zur Uhr. Es wurde Zeit, dass sie die Suppe zubereitete, wenn die Erbsen zu Mittag gar werden sollten. Eingeweicht waren sie schon seit dem Vorabend. Flora hatte ihr die Hülsenfrüchte am letzten Marktag vorbeigebracht. ..Wollte keine Kundin kaufen”, hatte sie dazu gemeint. ,,Sind schon recht schrumpelig, aber wenn du sie lange einweichen lässt, schmecken sie sicherlich noch.” Daje hatte sich bedankt und mit einem warmen Gefühl für die Freundin festgestellt, dass die Erbsen noch sehr gut aussahen und sicherlich eine Käuferin gefunden hätten.
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Kurzgeschichten
Liebling, gehen wir heute shoppen?
Es war Samstag Morgen. Die Sonne schien zum Schlafzimmerfenster herein und tauchte den Raum in goldenes Licht. Kati stand frisch geduscht vor ihrem geöffneten Kleiderschrank, in dem verschiedenfarbige Kleidungsstücke hingen, und geduldig auf ihren Einsatz warteten. Kati nahm eins nach dem anderen heraus. Stellte sich damit vor ihren großen Standspiegel und betrachtete sich kritisch. Doch nichts schien ihr zu gefallen. Weder das Kleid mit dem hübschen Rosenmuster, noch der blau-weiß gestreifte Rock, mit dem rot eingefassten Saum. Und auch nicht die bestickte grüne Bluse mit dem weiten Ausschnitt, schien ihr geeignet. Mit Nachdruck schloss sie die Schranktür und fragte mit bittendem Unterton: ,,Liebling, gehen wir heute shoppen? Ich habe nichts anzuziehen.“ Nachdem sie in ihre Jeans gestiegen war und ein Sweatshirt über den Kopf gezogen hatte, drehte sie sich ihrem Mann zu, der noch im Nachtzeug, im Bett aß. Er las die Samstagszeitung, die immer besonders umfangreich war. Ihn betrachtend, fügte sie hinzu: ,,Morgen ist doch unser Hochzeitstag. Und wenn wir in das schicke Restaurant gehen, möchte ich auch dementsprechend gekleidet sein.“ Klaus hatte im Reichshof ein Candle-Light-Dinner für sie beide bestellt. Kati freute sich sehr darauf. Als sie auf ihre Frage keine Antwort bekam, ging sie zum Bett hinüber. Warf einen Blick auf sein Nachtschränkchen, und statt ihre Frage zu wiederholen, setzte sie sich zu ihm. Drückte sanft die Zeitung herunter. Erschrocken sah er auf. ,,Oh! Schatz, hast du etwas gesagt?“ Seine braunen Augen, in denen goldene Pünktchen tanzten, sahen auf ihren Mund. Zu Beginn ihrer Beziehung, hatte sie das irritiert und verlegen gemacht. Doch inzwischen akzeptierte sie es als seine persönliche Art, die Menschen anzusehen. Sie sah ihm zärtlich in die Augen. ,,Ich habe dich gefragt, ob wir heute bummeln gehen.“ Klaus schaute sie aufmerksam an. Dann nickte er. Legte die Zeitung zusammen und antwortete: ,,Gerne. Ich springe nur schnell unter die Dusche. Mach doch schon mal Frühstück. Ich bin gleich bei dir.“ Kati beugte sich vor. Küsste seine Lippen und fuhr ihm durch das dichte Haar. Während er ins Bad ging, lief sie in die Küche um Kaffee zu machen.
Klaus und Kati hatten sich vor zehn Jahren bei einem Computerlehrgang, den sie leitete, kennengelernt. Der große dunkelhaarige Mann war ihr aufgefallen, weil er sie während des Unterrichtes sehr aufmerksam ansah. Sie fühlte sich von seinem Interesse geschmeichelt. Jedes ihrer Worte schien er aufzusaugen, und nach einigen Abenden wurde aus ihrem Blickkontakt mehr. Auf seine Frage: ,,Gehen Sie mit mir essen?“, hatte sie sofort eingewilligt. Aus einem Essen wurden tägliche Verabredungen, und nach acht Monaten beschlossen sie, zusammen zuziehen. Als er nach einem Jahr fragte: ,,Willst du mich heiraten?“, willigte sie voller Freude ein. Kati lächelte in der Erinnerung, während sie den Frühstückstisch deckte. Sie hatte es nie bereut.
Eine Stunde später saß sie neben Klaus im Auto. ,,Wir parken beim Norder Tor. Von da aus können wir zu den Geschäften laufen.“ An dem Einkaufszentrum befand sich ein großer Parkplatz, auf dem an diesem Vormittag, schon etliche Wagen standen. Sie fanden noch eine Parklücke und liefen gleich darauf, Hand in Hand, die Brückstraße hinunter. ,,Wo willst du zuerst hin?“ Kati überlegte. ,,Wir könnten die einzelnen Boutiquen abklappern, und bei Silomon finden wir eventuell auch etwas.“ Klaus blieb stehen. Drehte sich ihr fragend zu. ,,Wie bitte?“ Kati lächelte. Griff in sein Hemd und fragte dann: ,,Besser?“ Klaus lachte ebenfalls. Verdrehte die Augen und sagte: ,,Ich bin aber auch eine Schlafmütze.“ Erleichtert folgte er ihr, als sie die Tür zur ersten Boutique öffnete.
Beim Shoppen vergaß Kati alles um sich herum. Klaus nannte es ihren ,,Jagdtrieb“, denn erst einmal unterwegs, vergingen oftmals Stunden, bis sie ihre Beute nach Hause schleppen konnten. Auch heute lief sie im Geschäft von einem Kleiderständer zum nächsten, um dann mit einem enttäuschten Kopfschütteln wieder hinaus zu laufen. Klaus folgte ihr. ,,Ich habe Lust auf eine Tasse Kaffee“, bat er, nachdem sie das vierte Geschäft erfolglos verlassen hatten. Kati blieb stehen. ,,Ich auch. Lass uns zu Remmers gehen.“ Dort war es wie immer sehr voll. Klaus überlegte. ,,Lass uns doch lieber etwas essen gehen. Hunger hab ich auch.“ Sie liefen zur Pizzeria am Synagogenweg und nach einer ,,Vier Stagioni” Pizza und einem großen Glas Bier, hatte Klaus Lust auf ein Mittagsschläfchen. ,,Nichts da!“, sagte Kati. ,,Jetzt gehen wir zu Silomon. Dort finde ich bestimmt etwas.“ In dem großen Bekleidungsgeschäft gab es außer Kleidern, Röcken und Mänteln auch eine Abteilung für Unterbekleidung. Die befand sich im oberen Stockwerk. Kati überlegte. Ein aufregendes Dessous würde ihrem Hochzeitstag die gewisse Würze verleihen. Aber Klaus sollte es nicht vorher sehen. ,,Schatz, ich schaue mich mal ein bisschen um.“ Als er herzhaft gähnte, schlug sie vor: ,,Wenn du so müde bist, setzt dich doch dort auf einen Sessel. Ich brauche sicher ein Weilchen.“ Dankbar für die angebotene Pause, setzte er sich in der Damenabteilung im unteren Stockwerk in einen Sessel.
Kati brauchte zuerst ein hübsches Kleid. Am besten vorne geknöpft. Sie kicherte wie ein verliebter Teenager. Klaus sah schläfrig zu, wie sie in einem weit fallenden, bunten Kleid aus der Kabine trat. Wieder gähnte er herzhaft und setzte sich bequemer hin. Griff mit der Hand in sein Hemd, und schloss die Augen. Kati war das nur recht. Sie zog sich erneut um. Diesmal war es ein eng anliegendes rotes, vorne geknöpftes Kleid, dass ihr schönes Dekolletee und ihren wohl geformten Po betonte. Sie zog es wieder aus. Schlüpfte in ihre eigenen Sachen und trat vorsichtig aus der Kabine. Klaus hatte die Augen geschlossen. Nun konnte sie unbeobachtet, ins obere Stockwerk verschwinden.
Beim Anblick der dort hängenden Spitzenwäsche, vergaß Kati alles um sich herum. Sie durchforschte die ganze Abteilung nach den richtigen Dessous. Mit ihrem Fund ging sie in eine der Kabinen, und probierte es an. Das erste Set bestand aus einem schwarzer Spitzenbüstenhalter und dazu passender Slip. Beides erschien ihr als am besten geeignet unter dem roten Kleid. ,,Ihr Mann wird begeistert sein, wenn er sie damit sieht“, sagte die Verkäuferin, während sie Kati bewundernd ansah. Lächeln stimmte diese zu.
Klaus saß, den Kopf zur Brust geneigt, und schlief. Eine Hand war auf seinem Oberschenkel gelagert, während sein rechter Arm entspannt an der Lehne herabhing. Vorbeigehende Kunden warfen ihm verständnisvolle Blicke zu. Besonders die Männer, deren Frauen sich ebenfalls im Kaufrausch befanden, beneideten ihn. Wie gern hätten sie ebenfalls ein Nickerchen gemacht. Ein Mann blieb stehen, wurde aber sofort von seiner Liebsten weiter gezogen. ,,Starr den nicht so an. Das gehört sich nicht.“ Kati bekam von alldem nichts mit. Sie schwelgte weiterhin in den duftigen Dessous. ,,Ich glaube, ich nehme auch noch die weiße Kombination. Und das Roséfarbene finde ich ebenfalls wunderschön.“ Die Verkäuferin war begeistert. Sie trug die ausgesuchten Teile hinter Kati her und schlug immer mehr vor. ,,Schauen Sie“, sagte sie. ,,Das würde Ihnen auch stehen.“ Sie hielt einen Spitzen besetzten Morgenrock aus schwarzem Satin in der Hand. Kati nickte begeistert. ,,Ja, den nehme ich auch.“
Während Katis Begeisterung über all die hübschen Dinge wuchs, wurden immer mehr Kunden auf den schlafenden Klaus aufmerksam. Eine Frau stieß ihren Mann an und raunte: ,,Meinst du, dass der wirklich schläft? Wenn er nun einen Herzinfarkt hatte? Und keiner sich kümmert? Sollen wir nicht lieber dem Geschäftsführer Bescheid sagen?“ In dem Moment rutschte Klaus aus dem Sessel und landete mit einem sanften ,,Plumps“ auf dem Boden. Erschrocken, wichen die um ihn herumstehenden Leute, zurück. Eine Kundin flüsterte entsetzt: ,,Vielleicht ist er tot?“ Panisch blickte sie um sich. ,,Warum holt denn niemand Hilfe?“ Inzwischen hatte ein Mann den Geschäftsführer informiert. Mit ausgebreiteten Armen, und betont ruhigen Worten, bahnte er sich einen Weg durch die gaffende Menge. Er stellte sich neben Klaus, und begann auf ihn einzureden. ,,Hallo? Hören Sie mich? Was ist mit Ihnen? Sind sie krank?“ Keine Reaktion. Klaus rührte sich nicht. Unschlüssig sah der Geschäftsführer um sich. Er überlegte kurz, ob er den Liegenden schütteln sollte. Aber man konnte ja nie wissen. Vielleicht wurde der Mann dann wach und aggressiv. Vielleicht war er ja doch betrunken. Oder noch schlimmer … hatte Drogen genommen. Er beugte sich zu ihm runter. Roch ein wenig herum, aber eine eventuelle Schnapsfahne, konnte er nicht ausmachen. Zu den Umstehenden gewandt, sagte er: ,,Bitte, verhalten Sie sich ruhig. Keiner fasst den Mann an. Ich werde den Notarzt verständigen.“ Wenig später war er zurück. ,,Kann ein wenig dauern. Aber es kommt jemand. Und Sie sollten jetzt weiter Ihren Einkäufen nachgehen.“ Doch alle blieben gespannt stehen, und wollten wissen, wie es weiterging.
Inzwischen hatte Kati alles das gekauft, was sie für den Hochzeitstag brauchte, und konnte ihre Gedanken wieder anderen Dingen zuwenden. Nach einem Blick auf ihre Armbanduhr erschrak sie. Zwei Stunden hatte sie zum Anprobieren gebraucht. Sie sah sich um. Wo war eigentlich Klaus? Sollte er ohne sie nach Hause gefahren sein? Nein, das würde er nie tun, schob sie den Gedanken rasch von sich. Oder sollte er immer noch in der Damenabteilung im Sessel sitzen? Vielleicht war er eingeschlafen. Sie hoffte nicht, dass er … Manchmal, wenn er seine Ruhe haben wollte, machte er … Oh nein!
Kati schnappte die Tüten mit ihren Einkäufen und rannte voller Sorge in den ersten Stock hinunter. Dort fand sie eine Menschenmenge vor, die sich um irgendetwas scharrte. Was war da los? Mit den Ellenbogen kämpfte sie sich durch die Menge, die vor ihrem lauten. ,,Was ist hier los? Wo ist mein Mann?“, zurückwich. Draußen erklang das Signalhorn des Rettungswagens. Mit einer Trage kamen die beiden Sanitäter herein. Fragten knapp: ,,Wo ist der Verletzte?“ Kati saß inzwischen neben Klaus. Sie küsste ihn und rief: ,,Klaus, wach auf!“ Sie strich ihm übers Gesicht. Und endlich schlug er die Augen auf. Die Menschen wichen mit einem Raunen, erschrocken zurück. ,,Der ist ja gar nicht tot!“ flüsterte eine Frau. Klaus sah zu den Leuten hoch. Dann Kati an und stammelte: ,,Wo bin ich? Warum liege ich auf dem Boden?“ Vom Schlaf benommen, fuhr er sich mit den Händen übers Gesicht. Er fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen. Fragend sah er seine Frau an. Doch Katis Besorgnis wich einem ärgerlichen Stirnrunzeln, während sie fragte: ,,Klaus, du hast doch wohl nicht …“ Sie griff unter sein Hemd, und seine Antwort erübrigte sich. Ihr strenger Ton befremdete die Menge. ,,Soll sie doch froh sein, dass ihr Mann lebt!“, sagte eine Blondine empört. Kati hörte das und sah es an der Zeit, die anderen Kunden zu informieren, bevor sie über sie herfielen. In die staunende Menge erklärte sie ruhig: ,,Mein Mann ist extrem schwerhörig. Er hatte den Verstärker seines Hörgerätes ausgeschaltet. Dann kann neben ihm etwas explodieren, das hört er nicht.“ Nachdem auch die Sanitäter auf die Frage, ob es ihm wirklich gut ging, eine positive Antwort bekamen, half sie ihrem verschlafenden Mann auf die Füße. Kati bedankte sich bei dem Geschäftsführer und den Sanitätern, und verließ, verfolgt von den verblüfften Blicken der Menge, mit Klaus das Geschäft.
Wann sind wir im Urlaub?
Gero war urlaubsreif. Die letzten Wochen in der Firma waren der reinste Stress gewesen, und seine Nerven lagen blank. Nun freute er sich auf ruhige Tage mit der Familie. Am liebsten verbrachte er ja seinen Urlaub zu Hause im Garten. Mit Grillen, einem abendlichem Bier und friedlichen Kindern, die im Sandkasten oder im Plantschbecken spielten. Doch dieser Sommer lud nicht zum Plantschen ein. Im Gegenteil. Nach einem Blick auf seine nasse Terrasse, und den vom Wind gebeutelten Bäumen, hatte er zugestimmt, für sieben Tage in einen Centerpark in die Lüneburger Heide zu fahren. Es war ganz schön viel Gepäck, für zwei Erwachsene und zwei Kinder, das Susi ihm einige Tage später neben den geöffneten Kofferraum des Sharans stellte. ,,Wir fahren doch nur eine Woche, oder wandern wir aus?“, fragte er mit einem Schmunzeln. Susi lachte. Sie war inzwischen damit beschäftigt, die Blumen unter das Vordach ihrer Terrasse zu stellen. Ihre Nachbarin wollte sich darum kümmern. ,,Wo ist Mietzi?“ Suchend sah sie sich um. Denn auch auf die Katze der Familie, wollte die Nachbarin acht geben. Gero zuckte die Schultern. ,,Keine Ahnung. Die taucht spätestens wieder auf, wenn sie Hunger hat.“ Susi schloss die Haustür ab und rutschte auf den Beifahrersitz. Hinten im Auto saßen bereits, vorschriftsmäßig in ihren Sitzen angeschnallt, der fünfjährige Okko und die 18 Monate alte Marie.
Während Gero sich anschnallte und den Sitz auf die Länge seiner Beine einstellte fragte er: ,,Alles klar?“ Susi und Okko nickten. Marie hielt ihren Stoffbären hoch und sagte strahlend: ,,Brumm, brumm.“ Zufrieden fuhr Gero los und hoffte, dass sie ohne Störungen an ihrem Ziel ankamen. Doch sie waren gerade in Georgsheil, Richtung Emden abgebogen, als Okko zum ersten Mal fragte: ,,Papa, wann sind wir in Urlaub?“ Gero antwortete nicht, denn er musste sich auf den Verkehr konzentrieren. So wiederholte sein Sohn, schon etwas drängender: ,,Papa, wann sind wir denn endlich in Urlaub?“ Gero seufzte leise, während er dachte, ob das nun die nächsten 300 Kilometer so weitergehen würde. Bevor er jedoch antworten konnte, sagte Susi mit sanfter Stimme: ,,Das dauert noch ein Weilchen, Okko-Schatz. Wir müssen erst ein ganzes Stück über die Autobahn fahren.“ Darüber schien der Kleine nachzudenken, denn er schwieg. Doch keine zehn Minuten später, fragte er wieder: ,,Wann sind wir in Urlaub?“ Gero holte tief Luft. ,,Hör mal, mein Sohn. Wir sind doch gerade erst losgefahren. Mach die Augen zu und schlaf, oder hör Musik.“ Ziemlich genervt gab er Gas und überholte in Loppersum einen Wagen, der seiner Meinung nach, viel zu langsam fuhr. ,,Liebling!“ Warnend legte Susi eine Hand auf seinen Oberschenkel. ,,Hier ist 70!“ Gero bremste ab. Er drückte Susis Hand und sagte leise: ,,Tut mir leid. Aber ich bin etwas nervös.“ Sie lächelte verständnisvoll und wandte sich mit engelhafter Geduld ihrem Sohn zu: ,,Okkolein! Hab ein bisschen Geduld. Ich hab dir gestern Benjamin Blümchens neue Abenteuer auf deinen MP3 Player gespielt. Hör dir die doch an. Dann vergeht die Zeit viel schneller. Nachher machen wir eine Pause. Und dann sind wir schon bald da.“ Okko verzog schmollend das Gesicht. Rutschte tiefer in seinen Sitz und murmelte: ,,Doofer Urlaub! Doofes Autofahren!“ Susi drehte sich ihm zu und fragte: ,,Was hast du gesagt, mein Liebling?“ Doch Okko hatte sich inzwischen die Stöpsel seines MP3 Players in die Ohren gestopft und seine Augen geschlossen. Erleichtert warf sie noch einen Blick auf ihre schlafende Tochter. Lehnte sich zufrieden in ihrem Sitz zurück und schloss ebenfalls die Augen. Auch Gero begann sich zu entspannen, als er ohne weitere Kommentare vom Rücksitz, in Emden auf die Autobahn fuhr. Er gab Gas und dachte daran, was Susi ihm über den Bungalow im Centerpark erzählt hatte. ,,Dort gibt es einen gemauerten Grill, und im Supermarkt kann man frisches Grillfleisch kaufen.“ Nun freute er sich auf ein saftiges Steak. Und die eine oder andere Flasche Bier, würde ihm sicher auch nicht verwehrt werden. In der Vorfreude lief ihm bereits das Wasser im Mund zusammen. ,,Vielleicht können wir schon heute Abend den Grill anwerfen. Was meinst du, Susi? So spät werden wir ja sicher nicht ankommen.“ Doch Susi hatte ihm nicht zugehört. Sie zog schnuppernd ihre Nase kraus und fragte: ,,Riechst du das auch?“ Gero nickte, denn es schwebte wirklich ein unangenehmer Geruch in der Luft. Erneut krauste sie ihre Stupsnase. ,,Woher kommt der? Von draußen?“ Sie roch am spaltbreit geöffneten Fenster. Nichts! Oder …“ Sie wandte sich schnuppernd nach hinten. Gero lachte. ,,Ich vermute, dass unser Sonnenschein klammheimlich ihr Geschäft gemacht hat.“ Susi wollte es genau wissen. Sie löste ihren Gurt. Beugte sich über ihren Sitz nach hinten und in Richtung ihrer Tochter. Aber die war auch nicht der Auslöser. ,,Hinten stinkt es nicht. Das kommt von vorne.“ Sie warf ihrem Mann einen prüfenden Blick zu. Der verdrehte die Augen. ,,Du solltest dich wieder anschnallen. Wenn ich bremsen muss, fliegst du durch die Scheibe.“ Sie setzte sich. Schnallte sich an und sagte ärgerlich: ,,Aber es stinkt! Ich bilde mir das doch nicht ein!“ Gero verkniff sich einen Kommentar. Sie begann an sich herumzuschnuppern. An den Ärmeln ihres Pullis. Den Strähnen ihrer blonden Haare. Kein Befund. Nun war Gero dran. Sie roch an ihm. Seinem Shirt. Empört meinte er: ,,He! Ich stinke nicht.“ Doch Susi schnupperte schon am Armaturenbrett entlang. Wieder nichts. ,,Ich spinne doch nicht.“ Inzwischen war sie sehr blass und sagte, was Gero befürchtet hatte: ,,Ich glaube, ich muss spucken!“ Gero war klar, dass er sofort handeln musste. Denn den Geruch ihres Mageninhalts, würde er nie wieder aus seinem Auto entfernen können. Glücklicherweise kam gerade das Schild: ,,Ausfahrt Jemgum.“ Gero nahm in seiner Hektik einem anderen die Vorfahrt, das ein wütendes Hupkonzert auslöste, aber er konnte die Autobahn verlassen. Er hielt etwas später an einer Parkbucht. Kaum stand der Wagen, sprang Susi hinaus und übergab sich in einen Abfalleimer. Erleichtert ließ sie sich danach ins Gras sinken. Zog ihre Schuhe aus und stellte sie neben sich. Gero war ebenfalls ausgestiegen. Fragte besorgt: ,,Besser?“ Susi nickte zögernd. ,,Die Übelkeit wohl, aber es stinkt noch immer. Der Geruch scheint mich zu verfolgen.“ Er nahm die Schuhe hoch und setzte sich neben Susi. Der Gestank wurde stärker. Gero betrachtete die Profilsohle der weißen Freizeitschuhe aufmerksam, und rief: ,,Nun weiß ich, was hier so stinkt! Schau.“ An der gesamten Sohle klebte eine braune Masse. Susi sprang auf und schrie: ,,Igitt!!! Hundekot!“ Angeekelt betrachtete sie die Schuhe. ,,Der muss bei uns in der Einfahrt gelegen haben.“ Betroffen fügte sie hinzu: ,,Und ich hab es nicht bemerkt.“ Gero stellte die Schuhe ins Gras. Sagte beruhigend: ,,Ich mache sie dir wieder sauber. Hol nur eben die Feuchttücher aus dem Auto.“ Susi hielt ihn fest. ,,Nein! Schmeiß sie weg. Die ziehe ich bestimmt nicht wieder an.“ Gero überlegte. Allein mit Feuchttüchern, würden die Schuhe sich sicher nicht reinigen lassen. Und die Profilsohle erst recht nicht. Trotzdem. Sie hatten Geld gekostet. Zu Susi gewandt, fragte er: ,,Waren die teuer?“ Sie schüttelte den Kopf. ,,Nein, ein Schnäppchen.“ Beruhigt öffnete er den Deckel des Mülleimers und warf die Schuhe hinein. Susi trippelte bereits barfuß zum Auto. Setzte sich hinein und rief: ,,Können wir jetzt endlich weiterfahren?“ Gero nickte ergeben. Er hoffte sehr, dass jetzt Ruhe einkehrte, und sie die restliche Fahrt ohne Störungen hinter sich bringen würden. Doch er hatte sich gerade wieder ins Auto zurückgesetzt, als Okko wach wurde. Die Stöpsel aus seinen Ohren zog, und erfreut fragte: ,,Sind wir jetzt in Urlaub?“
Das Gewissen
Edo war von seiner Frau Ulla, zum Arzt geschickt worden. Sie machte sich Sorgen um ihn. Er wurde immer dicker, und seine Kondition immer schlechter. ,,Tja, Herr Klausen“, hatte Doktor Meier bei der Vorsorgeuntersuchung besorgt gemeint. ,,Zusammen mit Ihrem erhöhten Blutdruck und den Cholesterinwerten, kann das in Ihrem Alter gefährlich werden. Sie müssen abnehmen. Ihre Ernährung umstellen. Mehr Obst, Gemüse und weniger Fett essen. Auch zu viele Kohlenhydrate sich nicht gut für Sie. Am besten schicken wir Sie zur Kur. Dort werden Sie wieder fit gemacht.“ Doktor Meier füllte den Antrag mit der Bemerkung aus: ,,Ich mache einen Dringlichkeitsvermerk darauf. Dann geht es meistens schneller.“ Edo sagte nichts. Er unterschrieb das Formular und ging mit einem knappen: ,,Moin!“ hinaus. Er war beleidigt. Was bildete der Doktor sich ein? Dick! Bluthochdruck! Cholesterin! Er hatte einen Bauch. Na und? Gerade wegen seiner runden Gestalt, wurde er als Weihnachtsmann, von Freunden und Nachbarn engagiert. Erfreut sagten diese immer: ,,Bei dir müssen wir nie etwas ausstopfen! Ist ja alles echt.“ Nun sollte das plötzlich anders werden? Gönnte man ihm nicht einmal mehr das abendliche Bierchen, oder den Fettrand an Ullas unnachahmlichen Schweinebraten, den er so liebte? Das bisschen Bauch … Andere Männer die auf die fünfzig zugingen, hatten auch so einen Bauch. ,,Ein Mann ohne Bauch ist kein Kerl!“, sagten seine Skatkumpel immer, bevor sie mit ihrem Bier anstießen. Am liebsten hätte er seiner Frau nichts, von Doktor Meiers Worten erzählt. Aber wie er Ulla kannte, würde sie sowieso nicht lockerlassen, bevor sie alles wusste. So erzählte er ihr in abgeschwächter Form: ,,Ich soll zur Kur. Mich erholen und auch etwas abnehmen.“ Ulla atmete erleichtert auf. Schlaflose Nächte hatte sie schon vor Sorge um ihn gehabt, wenn er laut schnarchend neben ihr lag. Die Angst, dass er krank werden, und sie ihn dadurch verlieren könnte.
,,Siehst du!“, sagte sie. ,,Gut, dass du zum Arzt gegangen bist. Die Kur wird dir gut tun, und die Pfunde nur so purzeln.“ Edo blieb skeptisch. Er fand es schrecklich, von zu Hause fort zu müssen, und zweitens grauste ihm vor einer Diät. Sicher gab es dort nur Magerquark und Knäckebrot. Er schüttelte sich innerlich, aber behielt seine Meinung für sich. Ulla kaufte ihm einen Jogginganzug und Turnschuhe. Eine Wetterjacke und Wanderstiefel. Und noch etliches mehr. ,,Brauche ich das wirklich alles?“ fragte Edo während er die Tüten zum Auto schleppte. ,,Natürlich“, meinte Ulla überzeugt. ,,Vier Wochen Kur, und vielleicht bekommst du noch eine Verlängerung.“ Der Antrag wurde tatsächlich schnell bewilligt, und Edo stieg in den Zug, um in die Klinik im Bayrischen Wald zu fahren. Ulla stand am Bahnhof und rief ihm zu: ,,In vierzehn Tagen besuche ich dich. Bis dahin hast du sicher schon einige Pfunde verloren.“
Edo bezog sein Zimmer und noch am Nachmittag bekam er seinen Plan für die nächsten Wochen.
,,Sie werden sehen“, sagte die junge und schlanke Ärztin motivierend, nachdem sie seine 110 Kilo in der Kartei notiert hatte. ,,Nächste Woche steht auf der Waage schon eine andere Zahl.“ Edo nickte, aber noch glaubte er nicht an einen Erfolg. Die nächsten Tage bemühte er sich redlich. Nahm an den Sportkursen teil. Aß die zugeteilten Mahlzeiten und wanderte in seinen neuen Schuhen umher. Nachmittags ging er in die Stadt und genoss seine Freizeit. Nach der ersten Woche, stieg er auf die Waage. ,,Seltsam“, sagte die medizinische Angestellte. ,,Sie haben noch kein Gramm abgenommen. Essen Sie etwa heimlich?“ Beleidigt wies Edo die Unterstellung zurück. ,,Natürlich nicht! Ich esse immer nur das, was man mir vorsetzt.“ Schulterzuckend trug sie sein unverändertes Gewicht in die Karte ein. Auch Ulla, die ihn wie versprochen besuchte, war enttäuscht und besorgt. ,,Aber Liebling, du hast ja noch gar nicht abgenommen! Du hältst dich doch an deinen Ernährungsplan?“ Edo nickte heftig: ,,Natürlich. Ich esse nur das, was man mir vorsetzt.“ Zu seiner Entschuldigung, fügte er hinzu: ,,Aber ich habe bestimmt einen langsamen Stoffwechsel, der eine schnelle Gewichtsabnahme erschwert. Sagt auch die Ärztin.“ Er nahm seine Frau in den Arm, und sagte: ,,Nun lass uns nicht mehr darüber reden, sondern die Tage genießen. Ich bin sehr froh, dass du hier bist.“ Zu Fuß erkundeten sie die Umgebung. Tranken Kaffee in einem hübschen Ausflugslokal, wobei er heroisch auf das angebotene Stück Torte verzichtete. Auch Ulla lehnte aus Solidarität ab. Auf dem Rückweg durch den Ort zum Kurheim, wurde sie sehr still. Als Edo fragte: ,,Was ist los?“, antwortete sie: ,,Ich überlege, wie wir deinen Stoffwechsel ankurbeln können. Ich husche mal eben da drüben in die Apotheke und frage, ob es ein Mittel dafür gibt. Setzt du dich in den Park auf eine Bank. Ich bin gleich zurück.“ Edo setzte sich. Schloss die Augen und wandte sein Gesicht der Sonne zu. Die Wärme machte ihn schläfrig, und er nickte ein.
Er stand vor einem großen dunklen Haus. Plötzlich öffnete sich die Haustür und eine männliche Stimme sagte: ,,Komm herein!“. Edo konnte niemanden sehen. Er zögerte, aber dann trat er ein, wie an einem unsichtbaren Band gezogen. Jetzt stand er in einer riesigen Diele, die von vielen Kerzen erhellt wurde. Erneut erklang die Stimme. ,,Komm näher. Geradeaus durch die Tür.“ Wie gebannt folgte er der Aufforderung, obwohl sein Herz plötzlich vor Angst und Aufregung heftig schlug. Zögernd ging Edo in einen Raum, an dessen Wände zahlreiche Spiegel hingen, die seine Gestalt vervielfachten. Zutiefst erschrocken, sah er auf die vielen dicken Edos. In sein Gesicht, dass Entsetzen ausdrückte. War er tatsächlich so dick? Er wollte seinen Blick davor verschließen, doch sobald er die Augen öffnete, sahen ihn seine Spiegelbilder wieder an. Als die Stimme sagte: ,,Setz dich doch. Dort vor den Kamin“, ließ er sich langsam in dem Sessel nieder. Mit ihm alle anderen Edos auch. Der Anblick war kaum zu ertragen. Am liebsten wäre er rausgerannt. Aber die gespenstische Atmosphäre hielt ihn gefangen. All seinen Mut zusammennehmend, flüsterte er in der Hoffnung, dass die Stimme ihm antwortete: ,,Wer bist du? Wie komme ich hierher? Und was soll ich hier?“ Ein heiseres Lachen erklang. Es kam ihm bekannt vor. Dann sagte die Stimme: ,,Wer ich bin? Ich bin dein Gewissen.“ Edo richtete sich schwerfällig auf. Sah um sich und rief: ,,Mein Gewissen? Aber wie kann das sein?“ Alle anderen Edos taten es ihm nach und so setzte er sich lieber wieder hin. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Sein Atem ging schwer, als er flüsterte: ,,Und … was willst du von mir?“ Plötzlich löste sich ein Edo aus einem der Spiegel und ließ sich leise keuchend in den Sessel ihm gegenüber fallen. Sagte, wobei er sich aufreizend langsam über seinen dicken Bauch strich. ,,Ich will, dass du dich stellst.“ Edos Stimme drückte Panik aus, als er hervorstieß: ,,Stellen? Wem oder was und warum?“ Er hatte doch nichts verbrochen. Sein Gewissen war rein. Oder? Aber als sein Gegenüber nun heftig auf seinem dicken Bauch herumtrommelte, kam Edo ein Verdacht. Sollte er auf seine kleinen Geheimnisse anspielen? So schien es zu sein, denn dieser fuhr fort: ,,Ich sage nur: Currywurst am Freitagabend. Schweinehaxen mit Sauerkraut am Samstag. Das große Zigeunerschnitzel mit fettigen Pommes am Montag. Dann Dienstag die drei Stücke Sahnetorte. Und die abendlichen Bierchen, muss ich wohl nicht extra erwähnen.“ Edo schrumpfte in seinem Sessel vor Scham zusammen. Versuchte sich zu verteidigen, indem er begann: ,,Aber mein langsamer Stoffwechsel, der ist …“ Sein Gewissen fiel ihm ins Wort. ,,Stoffwechsel! Das ich nicht lache. Du hast deine Frau, die dich von Herzen liebt, und nachts vor Sorge um dich nicht schlafen kann, belogen. Stoffwechsel! Wenn du dich an deine Diät gehalten hättest, wären deine Pfunde schon längst geschmolzen.“ Dazu konnte Edo nichts mehr sagen. Er seufzte tief auf und mit ihm alle Spiegelbilder. Als das Seufzen verklungen war, fragte er leise: ,,Und was soll ich jetzt tun?“ Der andere Edo beugte sich vor und antwortete ebenso leise: ,,Ganz einfach. Halte dich endlich an deinen Ernährungsplan und an das Fitnessprogramm.“ Edo überlegte, während alle anderen Edos vor Spannung die Luft anhielten. Als er nach einer Weile sagte: ,,Du hast recht“, und dabei erleichtert die Luft ausstieß, taten alle anderen es ihm nach. Edo verließ mit dem heroischen Gedanken, in Zukunft auf Schweinehaxen, Zigeunerschnitzel und Sahnetorte zu verzichten, das unheimliche Haus.
Als ihn jemand am Arm berührte und sagte: ,,Hallo, Schlafmütze“, schreckte Edo auf. Sah seine Frau verwirrt an, und sagte: ,, Geschlafen? Dann hab ich alles nur geträumt?“ Als sie lächelnd sagte: ,,Ich weiß ja nicht, was du geträumt hast, aber als ich aus der Apotheke kam, schliefst du. Ich war ja auch lange weg und in der Sonne …“ Sie setzte sich neben ihn und erzählte eifrig: ,,Aber jetzt habe ich das richtige Mittel, das dir beim Abnehmen helfen wird.“ Edo schüttelte den Kopf. Umarmte sie heftig und rief erleichtert: ,,Das brauche ich nicht mehr!“ Als sie ihn zweifelnd ansah, fügte er kleinlaut hinzu: ,,Aber ich muss dir etwas beichten.“
Ein kleines Wunder
Der Dezember hatte nicht nur Schnee gebracht sondern auch Sturm, der die Flocken vor sich her trieb. Das Wetter machte alles andere als Lust, hinauszugehen. Doch Nele wollte unbedingt zum Geburtstag ihres Vaters nach Hesel fahren. Kritisch sah Imko auf die mit Schnee bedeckte Straße und besorgt zum Himmel hinauf, an dem dunkle Wolken noch mehr ankündigten. Außerdem wurde es bald dunkel. ,,Wollen wir wirklich nach Hesel fahren?” Nele nickte heftig. ,,Natürlich! Meine Eltern warten auf uns. Also komm.” Imko hob resignierend die Hände, und schlitterte zur Garage. Holte den Wagen heraus. Nele stieg ein, und vorsichtig lenkte er den Passat auf die Straße. Einige Häuser in ihrer Siedlung waren adventlich beleuchtet. Sie strahlten mit dem großen Weihnachtsbaum vorm Rathaus, an dem sie gerade vorbei fuhren, um die Wette. ,,Schau nur, Liebling, wie hübsch das aussieht.” Ein beleuchtetes Rentier stand neben einem Weihnachtsmann und dessen Kutsche. ,,Ich kann jetzt nicht gucken”, sagte er, ,,ich habe genug damit zu tun, auf der Straße zu bleiben. Aber ich glaube dir, dass es gut aussieht.” Auf der Nadörsterstraße fuhr ein Schneepflug vor ihnen. Auf der kurzfristig geräumten Straße, konnte Imko etwas schneller fahren. Es war jedoch kaum Verkehr. ,,Siehst du”, sagte er. ,,die anderen Leute sind schlau, und bleiben bei dem Wetter lieber zu Hause.” Nele war stur. ,,Umso besser für uns. Ist so weniger Verkehr.” Während die Scheibenwischer ihr Bestes gaben um die Windschutzscheibe einigermaßen frei zu halten, sah sie aus dem Beifahrerfenster. Sie freute sich auf die Familienfeier. Auf ihre Eltern und ihre Schwester, die mit Mann und Kindern da sein würde. Sie wohnten ebenfalls in Hesel, und würden zu Fuß kommen. Nele sah in den wirbelnden Schnee hinaus und hoffte, dass sie die richtigen Mitbringsel für die Nichten und Neffen besorgt hatte. Da sie keine eigenen Kinder hatten, neigte sie dazu, die Kleinen ihrer Schwester zu verwöhnen. Ein Lächelnd erschien auf ihrem Gesicht, als sie sich die Freude der drei vorstellte, wenn sie die Computerspiele und Bücher auspackten. Inzwischen waren sie hinter Aurich. Sie kamen an einem Waldstück vorbei, als ein Wagen am Straßenrand, ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie setzte sich aufrecht hin und sah angestrengt hinaus, während Imko langsam daran vorbei fuhr. ,,Hast du das gesehen?” Imko schüttelte den Kopf. ,,Nein! Ich sehe nur Schnee.” Er versuchte die Scheibenwischer schneller zu stellen, doch die arbeiteten bereits auf höchster Stufe. ,,Was meinst du denn?” Nele tippte heftig mit dem Finger auf die Beifahrerscheibe. ,,Das Auto eben! Die Tür war geöffnet. Wer lässt seinen Wagen bei diesem Wetter so stehen?” Imko sah weiter gerade aus. ,,Weiß ich nicht. Vielleicht musste jemand ganz dringend etwas erledigen. Das kennst du doch auch.” Er lachte leise. Nele blieb ernst. ,,Aber wenn da etwas passiert ist?” Ihre lebhafte Phantasie ging mit ihr durch. ,, Wenn jemand verletzt ist und Hilfe braucht. Halt an! Bitte!” Aber Imko hatte Bedenken. ,,Was, wenn das eine Falle ist? Schließlich wird seitens der Polizei ja immer davor gewarnt anzuhalten. Man steigt aus. Bekommt einen Schlag über den Kopf und wird ausgeraubt. Oder Schlimmeres. Wir können ja die Polizei informieren, dass hier ein Auto mit geöffneter Tür steht.” Nele schnaubte. ,,Du glaubst doch nicht im Ernst, dass bei diesem Wetter jemand einen Überfall plant. Nein, nein. Da ist etwas passiert. Halt bitte an.” Imko kannte Nele lang genug um zu wissen, dass sie keine Ruhe geben würde. ,,Also gut. Wie du meinst. Wir sehen nach.” Vorsichtig parkte er am Straßenrand. Hoffte, dass der Wagen in ihrer Abwesenheit nicht einschneite, und stieg aus. Nele reichte ihm seine Jacke. ,,Hier, zieh die über.” Auch sie schlüpfte in ihre Winterjacke und nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach, bevor sie den Weg zurück zu dem fremden Auto liefen. Gerade hatten sie das Auto erreicht, als plötzlich ein großer schwarzer Hand auf sie zu sprang. Nele schrie erschrocken auf, und blieb wie angewurzelt stehen. Imko prallte gegen sie. Rechnete noch immer damit, einen Schlag auf den Kopf zu bekommen. Aber bis auf den Hund, war niemand zu sehen. ,,Ganz ruhig!” Imko begann auf den Hund einzureden. Der lief ein Stück von ihnen fort. Kam wieder zurück, und bellte heftig. Nele hatte den ersten Schreck überwunden, und betrachtete das aufgeregte Tier aufmerksam. Die Szene erinnerte sie an ihre Lieblingsfernsehserie. ,,Kommissar Rex” war ein Hund, der auch seinem Herrchen auf diese Weise mitteilte, wenn es Probleme gab. ,,Wir gehen ihm nach!”, beschloss sie, bevor Imko sich äußern konnte. Sie folgtem dem vorauslaufenden Hund durch den verschneiten Wald. Beleuchteten mit der Taschenlampe den Weg. Nach cirka zehn Metern blieb der Hund plötzlich stehen. Legte seinen Kopf in den Nacken und begann zu heulen. Es klang schaurig. Nele sträubten sich die Nackenhaare, während sie hinter Imko Schutz suchte. Auch ihn überlief eine Gänsehaut. Trotzdem trat er näher an den Nadelbaum, mit den weit herabhängenden Ästen heran. Nach einem Blick darunter, entfuhr ihm ein: ,,Ach, du lieber Himmel!” Nele, auf das Schlimmste gefasst, lugte vorsichtig hinter Imkos breiten Rücken hervor. Aber als sie die am Boden liegende Frau sah, kehrte ihr Mut zurück. ,,Ach, du lieber Himmel!”, rief auch sie, während sie sich zu der Hochschwangeren, auf den mit Tannennadeln bedeckten Boden kniete. ,,Was ist passiert?” Die junge Frau versuchte sich aufzurichten, während sie leise antwortete: ,,Ich war auf dem Weg zu meinen Schwiegereltern nach Aurich. Mein Mann ist schon dort. Da hatte ich plötzlich so einen starken Druck auf die Blase. Wollte mich aber nicht direkt an den Straßenrand setzen. Und dann bekam ich plötzlich Wehen und hab es nicht mehr zurück zum Auto geschafft.” Eine weitere Wehe ließ sie aufstöhnen. Nachdem sie vorbei war, fügte sie hinzu: ,,Und mein Handy liegt im Auto. Da hab ich mich unter den Baum gesetzt und gehofft, dass jemand kommt.” Nele und Imko sahen sich an. ,,Wir fahren Sie ins Krankenhaus nach Aurich. Bis der Rettungswagen bei diesem Wetter hier ist, sind wir auch dort.” Imko zog seine dicke Jacke aus, und half der jungen Frau sie anzuziehen. ,,Stützen Sie sich auf mich”, schlug er vor, ,,dann ist es leichter.” Doch sie sank mit einem leisen Schrei zurück. Heftig keuchend, stieß sie hervor: ,,Das schaffen wir nicht mehr! Ich glaube, mein Kind kommt.” Imko und Nele sahen sich an. Ohne ein weiteres Wort lief er zu ihrem Wagen zurück. Holte die beiden Decken, die immer auf dem Rücksitz lagen, und nahm sein Handy an sich. Er wählte 112. Teilte der Rettungsstelle mit, was passiert war, und wo sie waren. Zurück am Baum, schuf er mit den Decken einen trockenen, aber ungewöhnlichen Entbindungsplatz. Es war gerade noch früh genug. Die junge Frau presste zwei Mal, und gleich darauf erklang das zarte Schreien ihres Kindes. Vorsichtig legte Nele der jungen Mutter das Kind auf den Bauch. Bedeckte beide mit ihrer Daunenjacke. Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien. In der Stille des Waldes, warteten sie unter dem Baum auf den Rettungswagen, dessen Signalhorn wenig später erklang. Die junge Frau lächelte sie an und sagte: ,,Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie mich gefunden haben. Das werde ich Ihnen nie vergessen. Und bitte, kommen Sie mich besuchen.” Das versprachen Nele und Imko. Den Gedanken, was hätte passieren können, wenn sie nicht angehalten hätten, schoben sie weit von sich. Sie waren froh, zur rechten Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein.